Über 150.000 protestieren zwischen Bundestagsgebäude und Kanzleramt
Langsam füllt sich die große Grünfläche vor dem Reichstagsgebäude. Aus allen Richtungen strömen Menschen aller Altersgruppen, darunter auch Familien mit Kindern. Sie tragen Transparente, teils professionell gefertigt, teils handgemacht.
Der Himmel ist grau an diesem Samstag, 3. Februar. Ein teilweise böiger Wind weht über die Versammlungsfläche zwischen Bundestagsgebäude und Kanzleramt. Lautsprechertürme ragen empor, ein großes Aufgebot Berliner Polizisten und Bundespolizisten zieht geordnet in Gruppen mit Lageplänen in der Hand über die Versammlungsfläche.
Nicht nur in Berlin sind Menschen zusammengekommen, um gegen „Rechts“ zu demonstrieren. Größere Kundgebungen gab es auch in Dresden, Freiburg, Augsburg, Nürnberg und Saarbrücken. Auch in kleineren Städten und Gemeinden gingen Menschen auf die Straße.
Differenzieren und genau hinsehen
Die Ansichten hier in Berlin variieren. Der Arzt Andreas Lamers (60) sieht die AfD von Rechtsextremisten infiltriert. „Rechte Politik ist nicht das Problem, aber der Rechtsextremismus stellt eine Gefahr dar.“
Ein paar Schritte weiter steht eine junge Frau, die anonym bleiben möchte. Sie sieht keinen Unterschied zwischen „rechts“ und „rechtsextrem“. „Für mich ist rechts rechts und Rechtsextremismus ist nur ein weiterer Schritt in Richtung rechts.“ Ab dem Punkt, wo rechts beginne, höre es für sie auf, erklärt sie. Sie nehme die Gesellschaft als zerrissen und „fragil“ wahr. „Es gibt keinen Dialog, keinen Diskurs und ganz viele Ideologien herrschen.“ Kriege, Finanzkrisen und die Corona-Pandemie seien Ursachen für diese Spaltung. Sie glaubt, dass Gespräche die Spaltung auflösen könnten. Aber sie fragt sich, wie man dies tun könne, wenn es um Abschiebungen geht?
Für die Berlinerin Beatrice (67) geht es darum, die Mitte zu stärken, und nicht rechts- oder linksextreme Positionen. „Diese Demokratie lebt von der Vielfältigkeit und der Bedienung rechter und linker Positionen oder anderer, die es nun mal in einem demokratischen Land gibt.“
Nach Ansicht des Psychotherapeuten Frank Janßen (68) mache sich die Pluralität der Gesellschaft „zum Glück“ auch in der AfD unter den Politikern und Mitgliedern bemerkbar. Nicht jeder sei wie Höcke. „Darauf gründet sich auch meine Hoffnung, dass da der ein oder andere langsam zu Verstand kommt und sich wieder von der Partei distanziert.“
In den Augen eines Brandenburgers mittleren Alters, der seinen Namen nicht geben wollte, sei die AfD zwar durch eine demokratische Wahl in den Bundestag gekommen, sie sei aber keine demokratische Partei. Mit der CDU habe man eine konservative Partei. Aber gegenüber der AfD müsse man eine Grenze ziehen. Eine Spaltung sehe er in der Gesellschaft nicht, sondern sie werde von der AfD herbeigeredet. „Ich glaube, dass wir viel bunter und vielfältiger sind, als wir denken.“
SPD und Grünen-Politiker vor Ort
Eine größere Gruppe mit weithin sichtbaren SPD-Fahnen steht auf der Rasenfläche, sie tragen Schilder einer Berliner SPD-Frauenorganisation. Mittendrin in einem hellroten Mantel steht SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken, direkt neben ihr die Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD). Eine Interviewanfrage lehnen beide ab.
Später ist, laut Medienberichten, auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mit dabei. Er zeigt sich mit einem Plakat: „Nazis die Rote Karte zeigen.“ Grünen-Chefin Ricarda Lang und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) sind auch zu sehen mit einem Plakat mit der Parole „Lieber solidarisch statt solide arisch.“
Die Hauptbühne steht am selben Platz wie bei der Anti-AfD-Großdemo vor zwei Wochen mit mehr als hunderttausend Teilnehmern. Viele der damaligen Transparente sind auch jetzt wiederzufinden. Die Plakate auf der Demo tragen oft Parolen, die sich gezielt gegen die AfD und deren Vertreter richten. Auf der Bühne sprechen viele junge Menschen – auch mit Migrationshintergrund.
Über 1.800 Organisationen
„Wir sind die Brandmauer“ lautet das Motto der Versammlung. Als Organisator fungiert das Netzwerk Hand in Hand. Einer ihrer Mitorganisatoren, Bruno Balscheit, erklärt gegenüber Epoch Times, dass fast 2.000 Organisationen den Aufruf auf ihrer Website, „der rechten Normalisierung in Deutschland und Europa nicht länger zuzuschauen“, unterzeichnet hätten.
In dem Netzwerk haben sich Umwelt- und Flüchtlingsgruppen zusammengetan, wie Fridays for Future, LeaveNoOneBehind, PRO ASYL oder borderline-europe. Aber auch kirchliche Organisationen, Gewerkschaftsgruppen, Hilfswerke, Sozialvereine und die Nachwuchsorganisationen von SPD, Grünen und Linkspartei.
Ziel des Netzwerkes sei es, „dem Rechtsruck und Erstarken der AfD etwas entgegenzusetzen“, weil man wisse, dass wichtige Wahlen wie Landtagswahlen und die „Europawahl“ anstünden, so Balscheit. „Wir sind ein überwiegend progressives Netzwerk und versuchen auch mit unserer Arbeit progressive Akzente zu setzen.“ Man freue sich, dass man Menschen aus der Defensive geholt habe. „Wir wollen, dass sich diese Energie der letzten Tage und Wochen verstetigt.“ Sie planen strategische Aktionen während des ganzen Jahres. Finanziert seien die Demo und die Arbeit des Netzwerks mit Spenden.
Zu sehen in Berlin sind auch linksextreme Gruppen wie die Marxistisch-Leninistisch-Kommunistische Partei und ihre Jugendorganisation, die als israelfeindlich bezeichnete Gruppierung Young Struggle.
Unter den Teilnehmern ist auch eine größere Gruppe, gekleidet mit Palästinensertüchern. Sie rufen im Sprechchor israelkritische Aussagen. Auch sind zahlreiche farbige Migranten in größeren Gruppen zu sehen und ein schwarz gekleideter Antifa-Block mit der entsprechenden Flagge.
Menschenkette um den Bundestag
Während vor zwei Wochen die Sprecher von der Bühne aus die Teilnehmer animierten, „Ganz Berlin hasst die AfD“ zu rufen, heißt es heute „Ganz Berlin stoppt die AfD“ oder „Alle zusammen gegen den Faschismus“ und „Refugees are welcome here“. In den Medien war zuvor Kritik laut geworden, dass es „Ganz Berlin hasst die AfD“-Rufe gab.
Der Zuwachs an AfD-Mitgliedern hält parallel zu den Protesten weiter an. Allein im Januar seien 2.500 Neumitglieder zu verzeichnen, und dies trotz Veröffentlichung des „Correctiv“-Berichts über ein Treffen in Potsdam. Auf einer Podiumsdiskussion der Konrad-Adenauer-Stiftung berichtete kürzlich ein CDU-Mitglied, der Geschäftsführer eines Arbeitgeberverbandes und gut mit den Gewerkschaften und SPD-Funktionären vernetzt ist, dass ganze SPD-Ortsvereine aus Unzufriedenheit mit der aktuellen Regierungspolitik zunächst zur CDU und dann zur AfD oder direkt gleich zur AfD wechseln würden.
Nach Angaben der Berliner Polizei sind über 150.000 Menschen bei der Kundgebung versammelt, die Veranstalter sprechen von 300.000 Personen. Die geplante große Menschenkette um den gesamten Bundestag wurde nur in stark abgeschwächter Form mit einigen Hundert Teilnehmern davor durchgeführt. Mit ihr sollte symbolisch das Reichstagsgebäude als Sitz des Deutschen Bundestages vor Angriffen von „Rechts“ geschützt werden.
Teilnehmer befürchtet, seine Staatsbürgerschaft zu verlieren
Mit dabei ist auch Ivan (25) aus Russland. Er hat mit 18 seinen deutschen Pass erhalten. „Ich möchte nicht mit der Angst leben, dass die Rechten mir später einmal meine Staatsbürgerschaft wegnehmen und mich abschieben.“
Während des Interviews werden wir plötzlich von zwei Männern als „faschistisches Leitmedium“ beschimpft. Ob wir uns nicht schämen würden, hier zu sein. Wir wären Teil des Problems, heißt es. Auf die Frage, woran sie diese Einordnung festmachen würden, verweisen sie auf einen Wikipedia-Eintrag über Epoch Times. Auf die Erwiderung, dass die Neutralität dieses Artikels von Wikipedia-Redakteuren angezweifelt wird, heißt es pauschal, dass man das „Faschistische“ an den Inhalten auf unserer Website sehen würde. Die Frage danach, welche Aussagen genau gemeint seien, bleibt von beiden unbeantwortet.
Und jenseits von Berlin?
Bundesweit gab es mehr als hundert Kundgebungen, die Teilnehmerzahlen liegen laut den jeweiligen Polizeidienststellen bei 30.000 in Freiburg, 25.000 in Nürnberg, 24.000 in Augsburg und 10.000 in Saarbrücken. Auch in Kleinstädten wurde demonstriert. Laut Bodo Ramelow (Linke) gab es im thüringischen Greiz auch Gegenproteste, wie der Ministerpräsident, der selbst vor Ort war, auf X schrieb: „Die Nazis wollten stören und waren heftig in der Unterzahl.“
CSU-Chef Markus Söder nannte die AfD gegenüber der „Rheinischen Post“ eine „zutiefst rechtsextreme Partei“. Er fügte hinzu: „Es schüttelt mich jedes Mal regelrecht, wenn ich diese hasserfüllten Reden höre.“
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schrieb auf X von einem „starken Zeichen für die Demokratie und unser Grundgesetz“. Und: „Ob in Eisenach, Homburg oder Berlin: In kleinen und großen Städten im ganzen Land kommen viele Bürgerinnen und Bürger zusammen, um gegen das Vergessen, gegen Hass und Hetze zu demonstrieren.“
Die AfD interpretiert das Kundgebungsgeschehen anders. Sie sprach auf X von einer „durchsichtigen Hetzkampagne gegen Deutschlands einzige wirkliche Oppositionspartei“. Parteichef Tino Chrupalla wertete die Proteste in einem Interview mit dem „Deutschlandfunk“ als Ablenkungsmanöver der Regierung. Die Menschen dürften sich „nicht missbrauchen lassen“ von staatlichen Institutionen.
Ähnlich äußerte sich WerteUnion-Chef Hans-Georg Maaßen auf X über die Demonstranten: „Wenn all diese Leute irgendwann begreifen, wofür sie missbraucht wurden, dann wird das ein schwerer Erkenntnisprozess.“
Fazit der Polizei
Doch zurück nach Berlin und an den Bundestag. Was ist später am Tag das Fazit der Polizei? Es war voll, teilweise überfüllt, friedlich und ohne Gegendemonstrationen. Manchmal mussten die Beamten verhindern, dass Absperrungen überklettert wurden. Manche Bereiche wurden wegen Überfüllung geschlossen.
Unter grau verhangenem Himmel hat die Veranstaltung begonnen und so endet sie auch. Noch lange danach sind die U- und S-Bahnhöfe überlaufen. Nass zieht man wieder nach Hause. Dann gehen auch die rund 700 Polizisten, welche die Versammlung absicherten, in den Feierabend.
Anm. d. Red.: Dieser Artikel wurde am 4. Februar 2024 mit zusätzlichen Zitaten erweitert. Der Artikel wurde 5. Februar 2024 mit der korrekten Parteizugehörigkeit von Svenja Schulze aktualisiert.
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